Wir leben in einer Zeit, die bereits in der Schwangerschaft vorschreibt wie, was, wann in welcher Woche zu sein hat.
Es geht weiter mit Bestsellern, die frisch gebackene Mütter Woche für Woche begleiten, sie unterstützen sollen in ihrer neuen Rolle und die Betriebsanleitung des neuen Erdenbürgers liefern , was er wann wie in welcher Woche können wird und vor allem soll. Weicht der Erdenbürger von Größen- und Gewichtstabellen oder gar von Verhaltensanforderungen ab, ist der Stempel zu „abnormal“ oft nicht weit. Trost findet man in den Worten „das wächst sich aus“ und wenn man Glück hat, dann wächst sich auch alles aus und man hat ein „normales Kind“. Doch schauen wir mal genauer hin. Jeder von uns steht ein für seine Individualität, jeder von uns ist bereit für seine Einzigartigkeit in gewisser Hinsicht auch zu kämpfen.
Spannend, diese Ambivalenz, die wir bei unseren Kindern anwenden.
Sie sollen alle in die Tabellen und Listen des „Normalen“ passen und wenn, dann nur überdurchschnittlich sein in ihren Abweichungen. Sobald unser Nachwuchs dann aber mit den Gleichaltrigen in einen Topf geworfen wird, sind wir die ersten, die mit erhobenen Finger gleich auf die Besonderheiten unseres (!) Kindes hinweisen, die es sehr wohl von dem Rest des Rudels unterscheiden sollen.
Und das gefällt uns. Denn es ist etwas Besonderes.
Auch jedes Kind will gefallen. Denn jedes Kind will Belohnung, Lob und Anerkennung. Unser Hirn, das Belohnungszentrum mit seinem Botenstoff Dopamin lechzt danach. Einem Kind Boshaftigkeit oder den schlichten Unwillen (das macht er/sie extra) zu unterstellen, ist simpel gesagt „Quatsch!“.
Kinder testen Grenzen, loten aus – auch um sich selbst zu positionieren und zu finden. Sie wollen und brauchen Grenzen und Leitlinien, an denen sie sich orientieren können.
Aber innerhalb dieser Grenzen und Leitlinien sollte dennoch Platz sein, Platz für ihre Persönlichkeit und Platz für deren Entfaltung.
Die Gesellschaft ist hier oft gnadenlos. Sie verlangt auf Biegen und Brechen die Anpassung z.B. jener, deren Behinderung nicht sichtbar ist. Sie verlangt übersetzt von einem Blinden endlich „seine Augen zu öffnen und genau zu schauen.“ Von einem Gehbehinderten, doch endlich mal ein paar Schritte zu laufen.
Das klingt überspitzt? Ja, das ist es auch! Aber es ist einfach nur die Darstellung, die jeder versteht, etwas, dem Eltern eines Kindes mit einer völlig unsichtbaren Behinderung dauernd ausgesetzt sind. Und da kommt einem dann nur noch ein Gedanke. Es wird wohl oder übel die Gesellschaft lernen müssen sich anzupassen, wenn sie nicht möchte, dass Menschen in ihr einfach untergehen. Es nutzt kein soziales Geschwafel, wenn es de facto nur bei der Theorie bleibt. Und jeder Mutter wünsche ich den Mut für ihr Kind einzustehen und sich ruhig zu trauen, sich auf ihre Instinkte zu verlassen, die sie auf jeden Fall in sich trägt. Sich nicht einschüchtern zu lassen, wenn andere sagen: „So hat das zu sein.“ Dies gilt nicht nur für Mütter von Kindern mit besonderen Bedürfnissen, wie "sie" heutzutage genannt werden, denn eines ist sicher: besondere Bedürfnisse hat jeder von uns und somit auch bereits jedes Kind.
Haben wir doch mehr Mut zur Individualität und gestehen wir sie auch unseren Kindern zu, erlauben wir uns und ihnen, sich nicht immer dem System sklavisch unter zu ordnen. Prüfen wir kritisch, ob es sinnvoll ist oder schlicht und einfach unmöglich was verlangt wird.
Denn wie sagt Gerald Hüther so schön? Ein "guter Schulabschluss ist nicht zwingend ein Indikator von Intelligenz, sondern lediglich von Anpassungsfähigkeit" und selbst die hat ihre Grenzen und darf sie auch gerne behalten.
Frei nach dem Motto: der Blinde wird mir die Farbe der Blume vor ihm auch nicht mit Druck oder durch Insistieren nennen können, aber ich kann versuchen sie ihm zu beschreiben.
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