In meiner Arbeit merke ich immer wieder, wie schwer wir uns tun, uns selbst Mitgefühl entgegen zu bringen. Wir rechtfertigen die Handlungen unserer Eltern gerne damit: Sie wussten es nicht besser, sie hatten selbst eine schwere Kindheit, sie haben ihr Bestes gegeben, sie haben sich immerhin bemüht etc. Diese, im ersten Moment erwachsen anmutende Haltung, kann aber tückisch sein, wenn es um die Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse aus der Kindheit geht.
„Meine Mutter musste hart arbeiten, um uns Kinder durchzubringen. Ich bewundere sie, wie sie als Alleinerziehende den Einkauf und uns immer in den vierten Stock geschleppt hat. Unglaublich, was sie auf sich genommen hat, um uns groß zu ziehen.“
Was hier zu lesen ist, ist Mitgefühl für die Mutter, die es ach so schwer hatte. Was du hier nicht liest, ist das Mitgefühl für das Kind, welches Angst hatte zur Last zu fallen, sich schuldig fühlt, dass er der Mama so schlecht geht, weil sie für das Kind ja so viel aufgeben musste. Oft kommen Klienten zu mir mit Panikattacken, Schlafstörungen, Problemen im Job und die Ursache aller möglichen Themen ist immer dieselbe: mangelndes Mitgefühl für die Traumakindanteile und Verständnis für „den Täter“. Überschwemmt von Scham- und Schuldgefühlen suchen Klienten meine Praxis auf.
Wenn ich dann auf Mitgefühl für sie selbst plädiere, merke ich oft eine Abwehrhaltung bzw. eine diffuse Angst, genau hinzusehen.
Wir fürchten dabei nämlich einen sogenannten „Backdraft“.
Man kennt diesen Begriff bei Brandgeschehen. Wenn Feuer in einem Raum ausbricht, welcher schlecht belüftet ist, so schwelt dieses dahin, bis man eine Tür oder ein Fenster öffnet. Dies entfacht dann das Feuer erst richtig und es wird zerstörerisch.
So fürchten auch wir, das Tor zu unserem Herzen ganz zu öffnen. Daher lassen die Meisten die Tür zum Herzen lieber zu. Zu groß ist die Angst von Traumagefühlen überschwemmt zu werden und in die bereits gefühlte Ohnmacht wieder zu verfallen.
Den wenigsten ist das bewusst. Und noch weniger, dass es möglich ist, Trauma wirklich aufzulösen und eine gesunde Identität zu entwickeln.
Es ist wichtig, sich langsam an Trauma heranzutasten.
Ein sicherer Indikator für Psychotrauma ist das mangelnde Mitgefühl für sich selbst als Kind. Doch warum tun wir uns so schwer, Mitgefühl für uns zu entwickeln, während es uns im Außen leicht fällt, Menschen ihren Schmerz oder Kummer zuzugestehen?
Als Kind ist es ein wirksamer Schutz vor bedrohlich wirkenden Eltern, zu sich selbst hart zu werden. Wird man als Kind alleine gelassen, so reden wir uns ein, wir wären eben so stark, deswegen würden unsere Eltern uns das zutrauen. Viele Kinder kritisieren sich selbst, um nicht der Kritik ausgesetzt zu sein oder die emotionale Unerreichbarkeit der Eltern zu spüren. Wenn ich hart zu mir selbst bin, so ist dies eine Strategie von der anfänglichen Ohnmacht in die Macht zurückzufinden. Kritisiere ich mich selbst härter als andere, so bekomme ich das vermeintliche Gefühl der Kontrolle zurück. Doch dies ist eine Illusion.
Denn dieses Verhalten, welches als Kind das Überleben sicherte, wird im Erwachsenenalter zu einem sehr selbstschädigenden Muster. Körperliche Beschwerden, Ess-Störungen, Angst-Störungen, Bindungsproblematiken etc. sind nur einige der Auswirkungen, an denen sich mangelndes Selbstmitgefühl mit den Traumakindanteilen erkennen lässt.
Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen, Mitgefühl für uns selbst entwickeln und dadurch neue Stärke gewinnen?
Indem wir klar für uns einstehen, engagiert handeln und den Weg Richtung Selbstakzeptanz gehen. Wir selbst sollten immer unser bester Freund sein. Der Weg dorthin ist oft nicht leicht, zu groß ist die Angst eines „Backdrafts“, aber die Auseinandersetzung mit Kindheitserlebnissen der unschönen Art ist unumgänglich, um im heute hier und jetzt friedlich mit sich selbst und seinem Umfeld sein zu können.
Wenn auch du dich dabei ertappst, deine Eltern als Helden zu feiern, wie viel sie für dich aufgegeben haben, wie hart sie gearbeitet haben, wie selten der Papa zuhause war, weil er alle erhalten musste, wie oft die Mama spät nach Hause kam, weil sie so viel zu tun hatte, du im Hort warst, weil keiner Zeit hatte, du bei der Oma aufgewachsen bist, weil die Mama arbeiten musste und der Papa sich vertschüsst hat, ... dann versuche doch mal ehrlich dein Kind-ich zu fragen, ob es dafür wirklich Verständnis hat. Achte darauf, dass du jedenfalls auf dem Holzweg bist mit der Antwort: „Oh ja, ich hatte immer Verständnis dafür, dass ich abends allein im Bett war, weil die Mama Spätschicht hatte...“ oder ein emotionsloses „ja, es war halt so“.
Schau genauer hin: Vielleicht hattest du große Angst, hast dich in den Schlaf geweint... DIESES Kind hat kein Verständnis für die Mama, es will einfach nicht allein sein, will die Mama da haben, um sich sicher zu fühlen. Werde ehrlich! Vor allem zu dir.
Du weißt genau, wie gut es tut, getröstet und unterstützt zu werden. Wenn du dich schwer tust, dir selbst Mitgefühl zu schenken, dann behalte immer folgendes im Hinterkopf: Selbstmitgefühl hat absolut nichts mit Selbstmitleid oder Narzissmus zu tun.
Es ist der liebevolle Umgang mit dir selbst, den du ursprünglich in deiner Kernfamilie vielleicht sehr vermisst hast.
Mehr über Psychotrauma und was du dagegen tun kannst, findest du HIER
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