Zu dick, zu alt, zu schlaff, zu.....?

"Du hattest immer so eine bewundernswerte Disziplin."

"Du warst ja immer so durchtrainiert."

 

Bis vor kurzem haben mich diese Aussagen beschämt, wenn ich mich im HEUTE im Spiegel betrachtet habe. Ein innerer Kampf wurde losgetreten, Rechtfertigungen drängten sich auf, über 50 Operationen hätten es unmöglich gemacht, auf dem Level weiter zu trainieren.

Aber ist das die Wahrheit?

Die Wahrheit ist: „ich war schwer krank!“

Und damit meine ich nicht die Schmerzen, die ich jahrelang hatte, die operativen Interventionen die folgten, das beschwerliche „Sich-zurück-Kämpfen“ jedes mal aufs Neue. Ich meine meine Seele, bzw. meine Psyche. Ich war schwer krank, gezeichnet von dem Trauma, welches mich aus meinem Körper katapultiert hat und ihn mich nicht mehr spüren ließ.

 

An meinem Hochzeitstag hat mich meine geliebte Fotografin in Unterwäsche beim Ankleiden „erwischt“ und ich habe dank Vorbeuge auf dem Foto ganze 4 Bäuche! So richtig ordentliche Speckrollen, die sich nicht wegdenken oder „schönreden“ lassen. Im ersten Moment ging es mir schlecht mit dem Foto, mir wurde kotzübel, der erste Gedanke war: „Das darf niemand sehen!“

 

Nicht der zweite, aber vielleicht der vierte Gedanke war: „Warum denn nicht? Wie komme ich denn überhaupt auf die Idee, dass ich mich dafür schämen muss, wie ich aussehe? Was ist nur los mit mir? Wann kann ich endlich Frieden mit meinem Körper schließen?“

 

Wichtig war für mich vor allem die Erkenntnis, dass es mir mittlerweile wirklich fern liegt, meinen Körper wieder durch Sport und ernährungstechnischem Kasteien in eine vermeintlich gesellschaftsadäquate Form zu quälen, im Gegenteil! Ich will meinen Körper nicht mehr verändern, ich möchte mein MINDSET zu meinem Körper ändern. Ich will verändern, wie ich über mich denke, verstehen, warum ich mich so sehr für mich schäme und dann endlich Frieden schließen. Mich nicht jedesmal kritisch im Spiegel betrachten, sondern einfach nur „sein“.

Heute – und das sind vielleicht 10 Tage später, sehe ich nach anfänglicher Orientierungslosigkeit Licht am Ende dieses Gedankentunnels.

 

Wie jedes Jahr, bevor die Badesaison beginnt, hatte ich auch heuer schon Gedanken wie: „Oh mein Gott, es wird immer schlimmer, wenn ich so schwimmen gehe, … jeder wird sich denken, was ist denn mit ihr passiert…“ – Und… der Gedanke wäre ja durchaus legitim, wenn man als Maßstab ansetzt, was ich in einer Zeit gemacht habe und wie ich in der Zeit ausgesehen habe, wo meine einzige Möglichkeit, mich nicht zu spüren war, exzessiv Sport zu betreiben und dazu ein unglaublich strenges Ernährungsprogramm an den Tag zu legen, welches ich akribisch verfolgte. 8 Jahre aß ich keine einfachen Kohlehydrate. 8 Jahre! 8 Jahre trainierte ich bis zu 10 mal die Woche und hatte einen Körperfettanteil von 5 %.

 

Wozu? Es war wohl ursprünglich als Schutz gedacht. Jede Kritik, die in meine Richtung kam, prallte an dem stahlharten Körper ab. Ich hatte meine Strategie gefunden, wie ich mich endlich stark fühlen konnte. Körperlich durch Muskeln und mental durch die unaussprechliche Disziplin, die ich mir selbst auferlegt hatte.

Doch mein Körper rief immer lauter nach Hilfe. Die Knie und Hüften zerbrachen förmlich unter der Last, die ich mir aufoktroyiert hatte. Da war nichts Weiches mehr, nichts Weibliches, nichts, was auf Genuss hinweisen konnte. Bis ich sogar zu dem Punkt kam, wo ich mich wirklich gar nicht mehr in meinem Körper verankert wahrnehmen konnte. Gar nicht. Ich hatte es „geschafft“, mich völlig von meinem Körper zu lösen, fühlte nicht mehr, dass ich „eigentlich“ eine Frau bin. Eine Frau? Ja, die Frau in mir, die wollte ich „loswerden“.

Ich weiß, welcher Satz in meinem System veranlasst hat, mich verändern zu wollen – und zwar auf allen Ebenen. Es ist die Gewissheit und der Schmerz, den der Satz in meinem gesamten System ein Leben lang verursacht hat:

„Mein Vater liebt mich nicht. Mein Vater will mich nicht – und dafür schäme ich mich.“

Kinder werden immer die Schuld bei sich suchen, warum der von ihnen ursprünglich bedingungslos geliebte Elternteil diese Liebe nicht erwidert. Kein Kind kann verstehen, dass Eltern ihre eigene Geschichte haben, die sie auf ihren Nachwuchs projizieren.

Ein verachtendes „Wie schaust denn DU aus?“ habe ich gefühlte 100 Male gehört, egal wie ich in dem Moment ausgesehen habe. Es passte nie. Zu dick, zu Mädchen, zu wenig sportlich, zu langsam, zu … Dieses „zu“ vor jedem Adjektiv machte es unmöglich zu entsprechen. Gekoppelt mit der frauenverachtenden Einstellung meines Vaters (und dem emotional nicht Vorhandensein meiner Mutter), blieb mir kaum anderes übrig, als alles Weibliche, Weiche, Feminine, Sensible, Kurvige an mir Stück für Stück zu leugnen, zu verstecken und wenn möglich zu zerstören.

 

Heute kämpfe ich noch immer ein wenig mit der absoluten Akzeptanz meiner selbst und da gehört nun mal mein Wunderwerk Körper auch dazu. Aber ich weiß mittlerweile, welche Botschaft in den über 50 OP’s steckt.

 

Nämlich: Ich kann den Schmerz, den ich in meiner Kindheit erfahren habe, durch Beschämung und Schuldzuweisungen, den Liebesentzug, die emotionale Vernachlässigung usw. niemals heilen, indem ich versuche, MICH zu verändern.

Der Schmerz ist da und lässt sich nicht wegsporteln, wegdiäten oder wegoperieren.

Er ist ein Teil von mir. Und zwar ein sehr, sehr wichtiger. Denn er ist DER gesunde Part, der mir immer schon zuverlässig gezeigt hat, dass in dem Elternhaus einiges im Argen war und dass für meine Gefühle und Bedürfnisse weder Raum noch Verständnis vorhanden waren.

Der Schmerz hatte immer Recht, er hat mir eigentlich immer schon gezeigt, dass ICH im falschen UMFELD bin.

Und als erwachsene Frau ist es mir nun, anders als als Kind, jederzeit möglich mein Umfeld zu verändern, wenn ich mich dort nicht wohl fühle.

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In dem Zuge frage mich natürlich auch: Was ist nur los mit uns, mit unserer gesamten Gesellschaft, die den abgespalteten Körper versucht zu verändern, damit er nur endlich passt und von außen als vermeintlich schön betrachtet wird? Wie sehr haben wir alle schon unser Wunderwerk Körper verlassen und behandeln ihn wie ein Auto eines Halbstarken, welches es zu tunen gilt, um damit angeben zu können?

 

Schaffen wir uns doch gemeinsam endlich den Rahmen und die Räume, wo wir authentisch sein können. Dazu gehören aber nicht nur Rückzugsorte, sondern vor allem auch Menschen, vor denen wir sinnbildlich „nicht den Bauch einziehen“ müssen.

Diesen Blog widme ich meinen Freunden, die mich durch „dick und dünn“ begleitet haben, ohne auch nur annähernd meinen Wert an mein Aussehen zu koppeln. Ihr habt immer klarer gesehen als ich!

 

Und danke an meinen Mann, der mich durch das Vertrauen, welches ihm ungetrübt zusteht, täglich zu einem besseren Menschen werden lässt, nämlich durch und durch „authentisch ich“.

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Kommentare: 2
  • #1

    Christi (Donnerstag, 07 März 2024 22:51)

    Ich wein nicht, du weinst!
    Danke für diese Offenheit, Verletzlichkeit und fürs Vorausgehen! Die Selbsthilfegruppe schreit nach uns!!! Love love love

  • #2

    André (Sonntag, 10 März 2024 07:21)

    Liebe Verena,

    Selbstliebe ist ein grosses Wort.

    Ja diese linke Hand gehört zu mir, auch dieser Fuss, der sich im Spezialschuh nicht wohl fühlt.

    Das bin trotzdem ich.

    Die inneren Werte zählen.

    LG André