Ich bin OK, du bist OK...

Vielleicht schon die zehnte Testung bei der wir heute sitzen, ich weiß es nicht genau, ehrlich gesagt, will ich es auch gar nicht wissen. Ich zähle nicht nach, zähle nicht mit, versuche es jedes mal zu verdrängen, zu vergessen.

Es ist nur eine Zahl, eigentlich relativ egal, hoch oder niedrig, je nachdem, wie man das Blatt wendet, denn eigentlich weiß ich genau, wie ich mich die letzten Jahre immer gesträubt habe, meinen Sohn, mein Wertvollstes, permanent durch mir unbekannte Personen, Fremde, testen zu lassen, klassifizieren, durch Punktezahlen definieren, schwarz auf weiß. IQ-Tests über ihn ergehen lassen, die testen, was er aufgrund seiner veränderten, differenzierten Wahrnehmung gar nicht können kann und demnach weigere ich mich, dieses verfälschte, verzerrte Testergebnis kritiklos zu akzeptieren, im Sinne, er schiene - kurz zusammengefasst - von minderer Intelligenz.

Diese Tests, durchgeführt von klinischen PsychologInnen sind im Endeffekt so aussagekräftig wie unbeschriebenes, weißes Blatt Papier.

Sage ich dem Blinden: „Was siehst du auf dem Bild vor dir?“ und er kann nicht antworten, versteht jeder was ich mit Verzerrung des Ergebnisses meine. ;-)

Und dann, stehe ich wieder da, eineinhalb Jahre vor Schulwechsel, umgeben von lauter Müttern, die gestresst sind, weil sie sich einfach noch nicht entscheiden können, welches Gymnasium für den Nachwuchs wohl das Geeignetste sein würde.

 

„Und in welches Gymnasium geht denn deiner dann? Er hat - als Autist - doch sicher lauter Einser!“

Nein, hat er nicht und er geht sicher in gar kein Gymnasium. Ich wäre froh zu wissen, überhaupt zu wissen, wo er denn überhaupt steht, welche Schule überhaupt geeignet wäre. Eine mit Schwerpunkt Autismus? Dafür ist er zu unauffällig und dort gibt es zu schwere Fälle, eine mit Schwerpunkt AD(H)S? Dafür fehlt ihm das „H“ und das wäre ihm alles zu laut und zu unruhig, eine Sonderschule? Durch seine Empathie – ach, sowas hat er????? – würde er viel zu sehr mitleiden, wenn es anderen Kindern schlecht geht... Boah, also wohin? Keine Ahnung!

Wie kann das denn sein? Man bilde sich das doch alles nur ein! Er sei doch völlig normal, ein so wohlerzogener Bub, so unauffällig, im Gegenteil! Ausgesprochen lieb!

Als ob ihm sein liebes Wesen automatisch das Verständnis grundlegender Rechenoperationen, sowie ein durchschnittliches Sprachverständnis beschere, eine flüssige Graphomotorik, sowie eine bestens entwickelte Grobmotorik?

Auf der einen Seite freue ich mich – gemeinsam mit Müttern und Vätern anderer Asperger-Kinder, dass der Bekanntheitsgrad des Asperger-Autismus in der Gesellschaft zunehmend wächst. Auf der anderen Seite wächst ebenso proportional das Vorurteil, man habe automatisch einen kleinen Einstein bei sich zu Hause, der überdurchschnittlich intelligent sei und bestückt mit übermenschlichen Fähigkeiten.

Ach ja, ganz nebenbei, überdurchschnittliche Rechenfähigkeiten sind bei Asperger-Autisten natürlich NICHT angeboren ;-)!

 

Liege ich denn so falsch, wenn ich meinem Kind einfach vertraue?

Er hat sich schwimmen selbst beigebracht, nämlich dann, wenn er bereit dafür war. Zwar kein Olympia-Schwimmstil, aber würde er wollen, dann würde er sich bei mir melden!

Fahrrad fahren war bis dato kein Thema. Rad stand in jeder Größe jederzeit griffbereit! Jetzt ist er 9(!) und will es lernen. Er übt eisern mit Mamas oder Papas Hilfe jeden Tag. Falsch, so lange zu warten, bis er selbst bereit war, es zu wollen? In meinen Augen goldrichtig.

Er hat sich selbst, völlig autodidaktisch Englisch beigebracht, in Wort und Schrift... Warum? Weil es ihn interessierte! Lesen konnte er mit vier Jahren bereits. Weil er mich bei jedem Autokennzeichen nach den Buchstaben gefragt hat. Das Interesse war einfach da, ganz ohne Zutun von außen.

Ich vertraue meinem Kind! Was ist so falsch daran?

Natürlich üben wir Mathematik! Aber eben nicht täglich stundenlang bis zur Vergasung! Ich will mein Kind einfach nicht frustrieren. Dann kann er etwas eben einfach NICHT! Dann hat er eben eine Teilleistungsschwäche, wie man heute dazu sagt. (sehr modern, by the way)

Na und?

Ich habe die Nase so voll von dem Herumgereite darauf, was er alles nicht kann, wo er im Altersdurchschnitt vielleicht hinterher hängt, etc.

Ich frage mich immer, wen interessiert denn das eigentlich?

Ich bin seine Mutter, mich interessiert genau null ob die Nachbarskinder oder Schulkollegen in seinem Alter besser oder schlechter sind oder waren als mein Sohn. Mich interessiert bei jedem Kind eigentlich nur eines: dass es hoffentlich eine möglichst glückliche Kindheit erleben darf, in der es eventuell gefördert wird aber in dem Sinne, dass es das Gefühl hat, Lernen macht Spaß und Freude oder besser, DARF Spass und Freude machen. Und ich sehe es als meine Aufgabe, sein Wegbegleiter zu sein, an seiner Seite zu sein, wenn er mich braucht, als Stütze, als helfende Hand, als jemand, der ihm vielleicht einen kleinen Anstoß gibt, Mut macht, lobt und unterstützt aber niemals rügt, dass andere besser sind als er, denn eines möchte ich meinem Sohn mit auf den Weg geben.

Er ist einzigartig und wertvoll und zwar genau so wie er ist.

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Kommentare: 2
  • #1

    Dunja (Mittwoch, 21 Juni 2017 07:18)

    Liebe Verena,
    Dein Junge ist enziartig und wundervoll, genau so wie er ist! Und er hat das Große Glück so eine liebvolle und starke Mutter an seiner Seite zu haben, die etwas hat, das manchen, schon verloren gegangen ist: das VERTRAUEN im eigenen Kind!
    Laß dich nicht ablenken, von Kritik u unpassenden Aussagen, geh deinen/ euren Weg weiter, denn der Erfolg bis hierhin spricht für sich!!! Du machst ganz wunderbar!!
    Einen ganz lieben Gruß, Dunja

  • #2

    Lucia Kautek (Donnerstag, 22 Juni 2017 18:06)

    Liebe Verena! Wie schon öfters lese ich deine Kommentare mit großem Respekt vor dir und deiner Lebenskraft. Du reflektierst dein Leben so klar und mit viel Klugheit. Von dir kann man viel lernen. Danke, dass du andere teilhaben lässt an deiner Situation. Das wird anderen Eltern helfen. Aber es gibt keine Antwort auf die Fragen, die wir Menschen haben, auf die Fragen, warum unser Leben so ist, wie es ist und unsere Kinder so sind und nicht anders. Wir sollten aufhören, eine Antwort zu erwarten. Und aufhören zu vergleichen. Das Leben ist unerträglich ungerecht. Und an den meisten Dingen können wir nichts ändern. Es ist wie es ist! Ein banaler Satz, der aber große Stärke in sich birgt. Wenn ich es schaffe und das kann man üben, zu dem Leben, das ich habe, Ja zu sagen, wenn ich mich entscheide, nicht zu verbittern und nicht aufzugeben, dann kann mir eine große Kraft aus dieser Haltung erwachsen. Und es ist nicht nötig, weit voraus zu denken. Vielleicht laufen die Dinge ganz anders, als ich es mir heute vorstelle. Keine (allzu großen) Sorgen um die Zukunft machen! Die Gegenwart wahrnehmen mit den kleinen schönen Dingen das Alltags und dann nur einen weiteren Schritt gehen. Wie der Kleine Prinz, Schritt für Schritt...Es wird alles gut. Irgendwann. Ich bin davon überzeugt. Dir und deinen Liebsten viel Kraft und Zuversicht! Deine Nachbarin Lucia