"Selber Schuld" oder "Schweigen schützt den Täter"

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Selber Schuld - warum Schweigen den Täter schützt

Achtung! Dieser Blog beschäftigt sich mit Trauma und Missbrauch. Wenn dich diese Themen triggern, achte beim Lesen bitte gut auf dich und deinen Selbstschutz.

„Selber Schuld“... Die Worte aus dem Mund meiner Mutter, als ich ihr mit 12 Jahren eröffnete: „Mama, es ist was passiert...“ – Und so dringend, wie ich reden wollte, so schnell wurde mir mit den Worten „Selber Schuld“ die Möglichkeit unterbunden, mich der Person anzuvertrauen, die eigentlich Nr. 1-Anlaufstelle sein sollte. Worum es ging? Ich wollte ihr erzählen, dass mich ein 19-jähriger Bursche sexuell missbraucht hatte. Ich selbst fühlte mich bereits „mitschuldig“, war ich doch – blauäugig – ihm in seine Wohnung gefolgt, denn er hatte mir versprochen, gemeinsam Musik zu machen. Er schloss hinter sich die Wohnungstüre, zog den Schlüssel ab und kam mir gefährlich nahe. Als ich versuchte abzuwehren, meinte er nur: „Puoi anche gridare, non ti sente nessunso, perchè sono tutti al mare“ – was soviel heißt wie: „Du kannst ruhig schreien, es hört dich niemand, es sind alle am Meer.“

Dann ist meine Erinnerung lückenhaft.

Wo sie wieder beginnt, ist 1 Woche später, als ich wieder bei meinen Eltern war und meiner Mutter davon erzählen wollte. „Selber Schuld.“ Den Satz hatte ich bereits 1000 gefühlte Male von meinen Eltern gehört, immer dann, wenn ich eigentlich Schutz und Zuspruch suchte, jemand Stärkeren, der helfen sollte, mich verteidigen. Nie war es zu dem Schutz gekommen, den ich so dringend gebraucht hätte. Im Gegenteil: „Selber Schuld“ war die lapidare Antwort auf Mobbing vom Feinsten, kleinere oder größere Blessuren beim Spiel, Unfälle, zerbrochene Freundschaften, Betrug vom Partner etc.

Die Liste scheint endlos lang. Was bleibt, ist die Frage: „Warum nur um alles in der Welt versucht man als Tochter bei den Eltern Verständnis zu finden, wenn es sich bei ihnen um einen pychopatischen Narzissten mit seiner Co-Narzisstin handelt?“

 

Weil man Kind ist. Punkt. Und weil man sein ganzes Leben lang – im Bezug zu seinen Eltern – auch Kind bleibt.

Da hilft kein noch so erwachsen und selbständig werden, um diese Wunden zu heilen. Man lernt mit der Zeit zu kompensieren. Wir suchen uns Pflaster, die wir auf die tiefen Wunden kleben. Gabor Maté beschreibt es so wunderbar. Wer mit dem Trauma „nicht gewollt“ zu leben hat, macht sich nützlich. Aus einem nicht gewollt, wird ein „gebraucht“. Über vielen Menschen in karitativen Berufen hängt das große „Nicht gewollt“-Damokles-Schwert. Die Berechtigung zum Leben wird vermeintlich durch das „gebraucht werden“ kompensiert. Die Scham, die Schuld zu existieren, den Eltern Aufwand bereitet zu haben, zeigt sich immer wieder bei mir in der Praxis, wenn Menschen ihre Eltern in Schutz nehmen: „Ich war sehr lebhaft, meine Mutter hatte es nicht leicht.“

Der eigene Charakter, die Lebenslust, die Freude am Entdecken aber genauso die eigene Bedürftigkeit werden entwertet, nur um den Schein der kümmernden, gesunden Eltern aufrecht zu erhalten. Täterloyalität nenne ich das.

Vielleicht noch zur Erklärung: Was ich mit diesem Blog NICHT will, ist mit dem Finger auf alle Eltern zeigen. Vielmehr soll alles das sein dürfen, was ist und ein ganzheitlicher Raum geschaffen werden für die Wahrheit. Die GANZE Wahrheit. Sie besteht eben nicht nur aus der Elternsicht, sondern sie bezieht die Sicht des Kindes mit ein. Klar wird es einer Mutter schwerfallen, auf die Bedürfnisse ihres Kindes einzugehen, wenn sie selbst Trauma im Gepäck hat und im Überlebensmodus feststeckt. Demnach bringt es auch nichts, zu beschuldigen. KEINE Mutter sucht sich aus, gestresst zu sein! Und doch macht es was mit dem Kind, wenn sie es ist. Angefangen bei der Schwangerschaft. Vor allem bedeutet diese Tatsache nicht, dass das Kind im selben Atemzug auf seine Bedürfnisse zugunsten der Mutter zu verzichten hat, um damit sein eigenes Überleben zu sichern. Und genau da liegt die Wahrheit. Um die Bindung nicht zu verlieren, geben wir alles. Bis 7, 8 Jahre werden jegliche Autonomiebedürfnisse den symbiotischen Bedürfnissen nach Bindung untergeordnet.

Und wir BRAUCHEN eine tiefe Bindung, um überhaupt überlebensfähig zu sein.

Lernen wir in unserer Kindheit, dass wir trotz Autonomie auf sichere Bindung jederzeit zurückgreifen können, entwickeln wir eine gesunde Einstellung zu Nähe / Distanz. Ist diese Entwicklung aber gestört, da wir allein gelassen wurden – z.B. im Krankenhaus nach der Entbindung, weil die Mutter arbeiten musste oder wollte, weil wir allein im Zimmer schlafen mussten als Baby etc. so passiert dies in einem Alter, wo unser Hirn noch deutlich unterentwickelt ist, so entsteht eines: Panik. Denn der Zustand ohne Bindungsperson ist existenzbedrohend. Es geht ums nackte Überleben.

 

Werden wir nun also allein gelassen, so bleibt nichts übrig, als das Bedürfnis nach Nähe abzuspalten. Zu groß das Gefühl der Angst. Ein Baby überlebt das schlicht und einfach nicht. Stark vereinfacht könnte man zusammenfassen: es bleibt eine lebenslange Suche nach Nähe und gleichzeitig die Angst vor ihr.

„Ich wünsch dir so ein Kind wie du, dann wirst du schon sehen...“ Nichts erscheint für mich einfacher, als ein Kind zu haben, das mir ähnlich ist, dann würde es für mich augenscheinlich leichter, die Bedürfnisse adäquat zu erfüllen, da sie mir bekannt vorkämen. Aber was wollte sie mir damit sagen? „Du bist kaum auszuhalten, eine Belastung für mich!“ Ich habe ihren Tonfall nie vergessen. Er ließ mich in dem Moment zum unerträglichen Monster mutieren. Ein kleines, egoistisches Monster, das von seinen Eltern etwas wollte, was es sich selbst nicht geben konnte.

Ein sehr gesunder Anteil in mir weiß, heute, so wie damals, dass ich nichts, aber auch gar nichts Unmögliches wollte. Aber: als Kind können wir nicht einfach zusammenpacken und ausziehen. Wir sind eingesperrt und zu 100% abhängig. Wenn ich meine Eltern heute als Erwachsene kennenlernen würde, so hätte ich nichts mit ihnen zu besprechen, nichts würde mich dazu bringen, einen Abend mit ihnen zu verbringen, zu plaudern, mich mit ihnen zu unterhalten, zu divergent unsere Lebensanschauungen, zu unterschiedlich unsere Werte. Umso erschreckender ist es dann, dass ich 18 Jahre dort leben musste.

Zum Glück war es ihnen wichtig, „studierte Kinder“ zu haben. So gelang mir, mit dem Vorwand studieren zu wollen (?), die Flucht ins Ausland. Sie hatten weniger Zugriff. Weniger... denn emotional ließ sich leider die Distanz nicht gleich so aufbauen, wie auf der Straße durch zurück gelegte Kilometer. Trotzdem hat es mir das Leben gerettet, aus diesem toxischen Schmelztiegel geflohen zu sein. Auch wenn es bei jedem Versuch, bei jeder Bitte um Unterstützung vor allem einen Konsens im Elternhaus gab: „Selber Schuld, schau, wie du das löst“.

Warum kämpfen wir mit Schuldthemen, obwohl wir wissen, wir sind es nicht? Warum fühlen wir uns schuldig, wenn es anderen schlecht geht? Warum fühlen wir uns schuldig, wenn eine Beziehung nicht klappt?

 

Ich fühlte mich sogar eine Zeitlang wirklich selbst schuld an allem Übel der Welt – und selbstverständlich auch an meinem. Steter Tropfen höhlt den Stein. Irgendwann war das Introjekt „selbst Schuld zu sein“ so groß, dass ich es zu glauben begann.

Das Urteil: „Schuldig und darum nicht geliebt“.

Oder: „Nicht gewollt und daher schuldig, zu sein?“ Schuld, die falschen Bedürfnisse zu haben, da sie ja offensichtlich nicht erfüllt werden? Weiter gedacht, schuldig, ÜBERHAUPT Bedürfnisse zu haben?

Auf Schuld folgt Scham. Wir schämen uns zutiefst, vor allem als Erwachsene, für unsere kindlich anmutenden Bedürfnisse. Doch Scham entsteht im Außen, ohne Beschämung keine Scham. Jemand muss mir vermittelt haben, dass das, was ich will, das, was ich brauche, falsch ist – abgekürzt, dass ICH falsch bin. Und so kommt es, dass wir als Erwachsene noch immer mit Themen kämpfen, die in die frühe Kindheit gehören, keinesfalls in ein Leben als selbständig lebende Frau oder im Leben stehender Mann.

Und dafür schämen wir uns.

Geben uns die Schuld, wenn unsere Bedürfnisse nicht adäquat erfüllt wurden. „Selber Schuld“, da war es wieder. Wie eine Bodenwelle auf der Autobahn. Es hebelt einen aus. Lässt einen die Bodenhaftung verlieren, der Bezug zur Realität verschwimmt, ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend breitet sich aus und erschwert das Atmen. Und wie wir auf die Bremse steigen, um das Gefährt wieder unter Kontrolle zu bringen, so steigen wir auch in unserem Inneren auf die Bremse. Kompensation tritt an die Stelle von ehrlicher Auseinandersetzung. Das Aushalten des Gefühls würde sonst unerträglich. Wir reagieren. Lenken uns ab oder reden unsere Gefühle klein. Wahrscheinlich wollen wir schon wieder zu viel. Sind eine Belastung für unsere Umwelt. Sind unwürdig, dass man uns gibt, was wir brauchen. Eben: selbst schuld.

Kein Wunder, dass unter diesem Hochstress viele zu Zigaretten, Alkohol oder anderen Substanzen greifen, um sich und ihre Gefühle zu betäuben. „Kein ich, kein Problem“.

Und mit jedem Mal mehr, wo es uns im Leben widerfährt, dass wir uns nicht gehört, nicht verstanden, nicht geliebt fühlen, spalten wir wieder das grausliche Gefühl „von damals“ von uns ab, denn die Gegenwart erinnert uns, triggert uns sozusagen in unserem Fundament. Jeder weiß, dass auf keinem wackligen Fundament gebaut werden sollte. Und doch geben wir unser Bestes. Wir versuchen zu kompensieren, wo es nur geht. Die Frage: „Warum reparieren wir das Fundament nicht einfach?“ Ist so denkbar logisch, wie kompliziert gleichermaßen. Weil bereits ein Haus draufsteht und wir es nicht mehr sehen können. Unsere Überlebensstrategien erschweren den klaren Blick auf die Ursachen. Sie sind heute in dem Maße hinderlich, so wie sie einst das Überleben sicherten.

Doch hinzusehen lohnt sich! Aber anders als beim Bau nicht mit dem Presslufthammer oder der Abrissbirne, sondern eher wie ein Archäologe, der sich sanft und behutsam mit Staubpinsel dem wertvollen Stück nähert. Und noch was vor allem eins: nicht alleine!

Immer wieder höre ich: „Ich therapiere mich selbst, ich kann das alleine.“ Einer der Sätze, der so unglaublich viel über die Person, die ihn ausspricht, erzählen kann. „Alleine“ deshalb, weil sie immer „alleine“ machen musste. Menschen, die alles „alleine“ und vermeintlich besser können, mussten alles „alleine“ können. Auch das, was sie nicht konnten. Eine stabile Bindung aufbauen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Bindung mit den frühen Bindungspersonen zu kompensieren. Aus dem „muss“ wird in der verzerrten Überlebenswahrheit ein „will“. Die Autonomiebedürfnisse werden zum Dogma erhoben und die Symbiose, wo ich mich auf wen verlasse, mich einlasse, fallenlasse, vertraue, verteufelt und heruntergemacht. „Abhängigkeit macht abhängig und das ist schwach“, lautet die Devise.

Menschen, die alles allein vermeintlich besser können, haben eine unaussprechliche Angst vor echter Nähe und Bindung. Ihre Angst, sich in einer Bindung selbst zu verlieren, ist grenzenlos, sich zu zeigen, ihren Gefühlen Raum zu geben, unvorstellbar! Sie sind auf der einen Seite stolz, ihre Umwelt zu kontrollieren, indem sie sich nicht zeigen und Masken tragen, erfreuen sich der eingebildeten Tatsache, niemanden zu brauchen, sich anderer lediglich zu bedienen. Aber echte, tiefe Nähe und Vertrauen sehen anders aus. Menschen werden zu Objekten, die Bedürfnisse erfüllen sollen. Eine klare Auseinandersetzung mit dem Subjekt gegenüber, seiner Meinung, seinen Bedürfnissen, seiner Weltanschauung würde die so tief zerrüttete Person in ihrer schönen neuen (allein zurecht gerückten) Welt stören, denn ihr Selbstbild ist äußerst vulnerabel und zerbrechlich.

Aber ein Mensch ohne wahren, tiefen Austausch mit seiner Umwelt ist und bleibt in seinem Inneren einsam. In seiner schrecklichen Vergangenheit gefangen, wo er abhängig war, als kleines Kind mit Bedürfnissen, die nicht gehört wurden, da die Eltern anderwärtig beschäftig waren.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und das Aussprechen der eigenen Wahrheit erfordern vor allem eines: Mut! Dieser kann weder erzwungen, noch von außen beigebracht werden. Mut kommt von innen. Die Bereitschaft, sich mit einer Vertrauensperson (Coach, Therapeut, Psychologischer Berater, ...) auf die archäologische Suche der eigenen Identität zu machen, katapultiert uns in der Sekunde in den Moment zurück, den wir so dringend zu vermeiden versuchen: unsere Verletzlichkeit als Kind. Denn zwangsläufig ergibt sich ein Verhältnis mit einem gewissen „Machtgefälle“. Und das triggert. Denn wenn wir eines nie wieder wollen, dann ist es Ohnmacht, ohne Macht zu sein, nichts machen zu können, bewertet, entwertet, beschuldigt und beschämt zu werden. Erst, wenn wir erkannt haben, dass die Begleitung bestenfalls nur eines will: „uns begleiten, sonst nichts“ – ist die Basis für eine erfolgreiche, tiefgehende Schatzsuche gegeben.

 

Und es kann einem wirklich nichts Besseres passieren, als dem Schweigen aus Scham und falschen Schuldgefühlen ein Ende zu setzen.

 

Denn schweigen schützt nicht den, der schweigt, Schweigen schützt im Endeffekt nur den Täter!

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Uta (Freitag, 06 Oktober 2023 19:40)

    Liebe Verena, der Satz, dass keine Scham ohne vorherige Beschämung und grundsätzlich erst einmal von außen kommt, ist mir besonders aufgeleuchtet.. wär sehr schön, wenn man dieses schwere Gepäck einfach von innen wieder raus tun könnt. Und das "nicht gewollt, dann bitte-bitte-wenigstens-gebraucht", sogar gebraucht für Dienste und Gefälligkeiten, die man selber GAR NICHT WIRKLICH MAG - das guckt mir immerzu aus dem Spiegelbild zurück. Und klingt oft auch nach: ich muss um jeden Preis nützlich, pflichtbewusst und fleißig sein. Weil wenn ich nicht nützlich bin, bin ich unsichtbar.. oder lästig.. oder lächerlich..oder überflüssig. -- HA! wenn das keine Beschämungen sind! -- ich freue mich sehr über unseren gemeinsamen Mut, das nun miteinander anzugehen als Seelenarchäologen! Danke und bis bald. GLG Uta