"Du verstehst ja bloß den Witz nicht."

Von Narzissten und Superhelden

Achtung! Dieser Blog beschäftigt sich mit Trauma und malignem Narzissmus. Wenn dich diese Themen triggern, achte beim Lesen bitte gut auf dich und deinen Selbstschutz.

"Du verstehst ja bloß den Witz nicht!"

Stimmt, ich verstand ihn nicht. Und ich verstehe ihn heute noch immer nicht. Aber eigentlich nicht den Witz an sich, sondern meine Mutter, die meinen Vater als lustigen Gesellen dastehen lassen wollte, während er sich auf meine Kosten in Szene setzte.

Lautes Gelächter – von ca 40-50 Kindern. Ich war 3 Jahre alt. Kindergarten. Mein Vater stellte sich als „Nikolaus“ zur Verfügung. So groß war mein Stolz, auf ihn, dass er diese tragende Rolle übernehmen würde – und auf mich, die wohl als Einzige wusste, es war kein Nikolaus, sondern mein Vater. ER würde allen Kindern Freude bereiten. ER war der Gönner, der jedem sein Nikolaussackerl überreichen würde. ER – MEIN Papi! Etwas enttäuscht war ich schon, dass er mich nicht als Erste beschenkte, übte mich jedoch in Geduld. Alle Kinder (immerhin 3 Klassen) saßen im Halbkreis auf den Miniatur-Kindergartenstühlen, das Licht war gedämpft, während der Nikolaus von Kind zu Kind ging. „Ah, und wer bist du?“ fragte er mit tiefer Stimme. „Ich bin der Christian“ antwortete Christian artig. „Ach von dir habe ich nur Gutes gehört, hier ist deine Belohnung.“ sagte der Nikolaus und überreichte dem freudestrahlenden Christian sein Sackerl. NUR ich wusste, wer er war und ich würde dicht halten, um den anderen Kindern nicht die Illusion zu rauben, dass es den Nikolaus gar nicht gab. So zog der große Mann mit dem weißen Bart von Kind zu Kind und.... an mir vorbei – ich wunderte mich. Etwas in mir dachte: „Sei geduldig. Du bist ihm so wichtig, dass du am Ende die ganze Aufmerksamkeit bekommst, nicht eingereiht in all die anderen Kinder.“

Doch der Nikolaus hatte alle Sackerl verteilt, verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zu Tür. Thomas, mein Kindergartenfreund (Ach, was waren wir verliebt! :-D) stand auf und rief: „Nikolaus, du hast wen vergessen!“

Mein Herz, welches kurz stehen geblieben war, begann für mich hör- und spürbar schnell zu schlagen. „Jetzt“ sagte etwas in mir, „Jetzt ist es soweit!“ Der Nikolaus (ach ja, mein Vater) drehte sich um und meinte: „Wen soll ich denn vergessen haben? Ich hab sicher niemanden vergessen!“ Thomas daraufhin mutig: „Doch! Du hast die Verena vergessen!“ Die Blicke des Nikolaus trafen mich wie Pfeile, mir wurde unaussprechlich übel. Der Moment dauerte eine Ewigkeit, bis er lautstark vor der gesamten Runde verkündete: „Die Verena? Nein, die hab‘ ich nicht vergessen! Die bekommt nichts, die war zuhause nämlich eine Hexe!“ Das Staunen und Raunen und die gefühlten 1000 Blicke der anderen Kinder werde ich niemals vergessen. Mein Vater – der Nikolaus – ging daraufhin aus der Tür. Meine Zeit stand still. Etwas in mir war gestorben. Da half auch kein Weinen mehr. Die restlichen 3 Jahre im Kindergarten waren der Horror. Ausgegrenzt und nicht gewollt. Denn wenn dir als EINZIGE der Nikolaus kein Sackerl gibt und sagt, du bist eine Hexe, ja, dann bist du es auch. Das war meine Zeit im Kindergarten. Ich hatte überlebt! Ich war in der Zwischenzeit völlig ängstlich und überfordert, als ich in die Schule sollte. Schon wieder so viele Kinder, schon wieder so viele, von denen Gefahr ausgehen konnte. Und Schutzsuche bei den Lehrern? Fehlanzeige, mein Vater unterrichtete an derselben Schule, seine Kollegen waren seine Freunde. Niemand hätte mir geglaubt.

 

2. Klasse Volkschule. Lehrer krank. Es kam eine Aushilfe. Mein Vater. Rechnen war angesagt (es hieß früher noch nicht Mathematik). „Wieviel ist 3+5?“ – Sigrid antwortete: „8 Herr Lehrer!“ – „Sehr gut!“ quittierte dieser. „Wieviel ist 4+2?“ Bettina hob die Hand: „6, Herr Lehrer!“ – „Bravo, Bettina! Und Verena, sag mal: Wieviel ist 14x32 (die Zahlen weiß ich nicht mehr, aber der Schwierigkeitsgrad war kongruent)“? Ich darauf hin: „Ich weiss es nicht!“ „Mein Gott, bist du blöd!“ – Die Klasse hielt inne. Es war totenstill, dann begannen die Meisten zu schwätzen. In der darauffolgenden Pause kam etwas ins Rollen, was mich noch ganze 7 Schuljahre in der selben (leider) Klassenkonstellation begleiten sollte.

Ich wurde ausgegrenzt (Es sagt ja sogar dein VATER, dass du blöd bist!), gemobbt, geschlagen, getreten, bespuckt, und niemand wollte mit mir befreundet sein. Jegliche Annäherungsversuche mit anderen Kindern wurden sehr schnell vom Rest der Klasse zunichte gemacht. Es war ein jahrelanger, grausamer Leidensweg. Ich erinnere mich gut, wie ich mich jahrelang jeden Abend in den Schlaf geweint habe, aus Angst, was am nächsten Tag wohl auf mich zukommen würde. Und dauerübel war mir, unaussprechlich übel.

Mit meinem Vater zu reden war zwecklos. In seiner narzisstischen Welt gab es nur ihn. Und wie ich später lernen durfte, Narzissten sind eben empathielos.

Das erklärte später ziemlich alles.

Damals suchte ich noch Schutz bei meiner Mutter. Sie zu entthronen gelang mir erst Jahrzehnte später. Dass ich keinen Vater hatte, war mir schnell klar, der Strohhalm, an den ich mich zu klammern versuchte, war sie. Ich erinnere mich wiederholt, wo ich bei ihr Verständnis suchte, indem ich ihr von den Grausamkeiten meines Vaters erzählte. „Der wollte doch nur witzig sein!“ war die wiederholte Antwort. „Du verstehst einfach den Witz nicht!“ Und irgendwann, wenn du das 1000 mal hörst, glaubst du es. Da war sie wieder, die Gewissheit. Wenn BEIDE Eltern sagen, du bist verkehrt, das sei alles nur witzig, der ganze Kindergarten und die ganze Schule samt Lehrerschaft mit lacht, ja, dann wird es wohl stimmen. Ich bin die Einzige, die etwas nicht versteht, ich bin die Einzige, die wieder mal etwas nicht verstehen will, also bin ich wohl auch die Einzige, die falsch ist. Und da war es wieder, das Gefühl, selbst schuld zu sein. Welches zu allem Überfluss von meiner Mutter natürlich auch verbal wiederholt bestätigt wurde durch die Worte:

„Also wenn du das nicht verstehst, dann bist du aber wirklich selber schuld.“

 

DER WITZ erschloss sich mir beim besten Willen nicht. Und zu der Tatsache, dass ich ja offensichtlich „zu blöd“ war, Witze zu verstehen, kam hinzu, dass keiner mich verstehen wollte, es nicht mal versuchte. Die Ohnmacht fühlte sich grenzen- und zeitlos an. Es verging viel Zeit mit vielen Therapieeinheiten (die ich als junge Erwachsene startete, sobald ich den toxischen Schmelztiegel verlassen konnte) bis ich zu dem Schluss kam:

JA! Es stimmt durch und durch! Meine Mutter hatte irgendwie doch Recht, auch wenn sie es ganz anders gemeint hat. „Du verstehst ja nur den Witz nicht, er wollte ja nur witzig sein“. Ich verstehe den Witz wirklich nicht. Und ganz ehrlich?

 

Ich will ihn gar nicht verstehen.

 

Weil es in meiner Welt keinen Platz dafür gibt, sich auf Kosten Schwächerer zu amüsieren. Und was in meiner Welt noch weniger Platz hat, dies auf Kosten seiner Kinder zu machen. Es ist ein schreckliches Armutszeugnis der Menschen, die aufgrund ihrer eignen Unzulänglichkeitsgefühle Schwächere missbrauchen, um sich größer und stärker zu fühlen.

 

Und so sehr ich mich bis vor einem Jahrzehnt noch für mich geschämt habe, so klar ist mir jetzt, dass diese Scham meinem Vater und meiner Mutter gehören sollte. Allzu oft schämt sich das Opfer für das, was ihm widerfahren ist und für die damit einhergegangenen Gefühle der Ohnmacht und Bedürftigkeit. Aber WENN sich in der Konstellation überhaupt wer schämen soll, dann seien es bitte die   Täter. Denn sie handeln schädlich – für ihre Umwelt und im Endeffekt jedenfalls auch für sich.

 

Dass solch maligne Narzissten selbst eine traumatisierende Kindheit erlebt haben, tröstet als Erwachsener ein wenig über das Erlebte hinweg, doch in meiner Welt „ent-schuldigt“ das noch lange nicht den Täter. Ich könnte niemals die Schuld von den Schultern meiner Eltern heben, habe ich sie dort schließlich auch nicht platziert.

Es bleibt die Sicht des Kindes ausschlaggebend für das wahre Selbstmitgefühl.

Jedes Kind hat ein Recht auf Eltern, die es bedingungslos lieben. Und dieser Wunsch ist legitim und gesund. Und genau auf diesen Anteil in mir achte ich. Es liegt mir fern, die Schuld anderen abzunehmen. Es lag in ihrer Eigenverantwortung. Und wenn etwas in meinem Weltbild so gar keinen Platz hat, dann ist es, dass Kinder ihre Eltern ent-Schuldigen sollen, für das, was sie getan haben, weil sie es wohl nicht besser konnten. Das klingt vielleicht unversöhnlich und stur. Mein Vater und ich hatten in 50 Jahren ein (!) vernünftiges Gespräch. Da teilte ich ihm Folgendes mit: „Ich kann dich nicht ent-schuldigen. Was du getan hast, ist in deiner Verantwortung und bleibt bei dir. Ich konnte nur lernen, damit zu leben. Das habe ich gemacht. Wie du mit deiner Schuld, die du spürst, die du auf dich geladen hast, weiterlebst, das weiß ich nicht. Aber ich wünsche dir dafür alle erdenkliche Kraft und Mut.“

 

Den Frieden im Außen zu suchen ist mühsam, kräftezehrend und selten von Erfolg gekrönt. Frieden beginnt in uns selbst. Und ich wünsche jedem Menschen, ganz voran meinen Eltern, dass sie mit sich gut auskommen und mit sich selbst im Reinen sind.

 

Diesen Blog widme ich Thomas. Er war mein Superheld! Er war so winzig klein und hellblod und trotzdem war er der Einzige, der dem Nikolaus Paroli bot und mich beschützen wollte. Er war mein Batman, mein Superman. Zum Glück habe ich ihn vor nicht allzu langer Zeit wieder gefunden. Denn er, so klein er damals auch gewesen sein mag, war maßgeblich daran beteiligt, dass ich das Vertrauen in Menschen nie ganz verloren hab, obwohl die Chancen dazu verdammt gut standen. Er hat mir gezeigt, man ist nie allein, selbst wenn man es glaubt. Es gibt immer Menschen, die für einen da sind, für einen einstehen, wenn man es selbst nicht kann. Unsere Superhelden. Thomas, danke, dass du einer davon warst!

 

Zum Verständnis: das auf dem Foto bin ich. Und auf dem Rahmen sind zwei Blumen, die Thomas mir raufgemalt hat. Ich hab ihn damals für seine schönen Blumen unglaublich bewundert. Und hab mich grenzenlos gefreut, dass er mir zwei auf meinen Rahmen gezeichnet hat. :-D

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Kommentare: 2
  • #1

    Ewo (Freitag, 06 Oktober 2023 15:40)

    Dieser Erlebnisbericht ist sehr traurig und doch auch sehr hoffnungsfördernd.
    Traurig, dass Kindern ihren Eltern und dem Wirken ihres ungesunden Handelns derart ausgeliefert sein können. Das sollte kein Kind erleben müssen. Was mir an deinem Beispiel gefällt ist die Tatsache, dass nach Jahren der Aussichtslosigkeit und der Qual offenbar nach und nach die Dinge für dich deutlich anders und somit mehr als deutlich besser liefen. Hast du dich doch intensiv mit Aufarbeitungsmöglichkeiten beschäftigt und diese Teil deines Berufes werden lassen und scheinst immun gegen viele Gifte im Leben geworden zu sein. Dies schafft Hoffnung auf Heilung für Betroffene.
    Danke für das Teilen deiner Geschichte.

  • #2

    Uta (Freitag, 06 Oktober 2023 20:01)

    Ja, vielen Dank für das Teilen dieser erschütternden 2 Kinder-Geschichten! Ganz tiefen Respekt, dass du das nicht nur überlebt hast, sondern jetzt da bist und leuchtest! voran leuchtest. ich möcht mir vorstellen, dass es durch deine Arbeit immer mehr und mehr Thomasse und Thomassinen gibt, aller Altersstufen, die achtsam sind und aufpassen, mutig geworden sind und aufstehen, wenn solches Unrecht gegen die Kleinen und Schwachen geschieht. "Recht muss Recht bleiben" heißt es in der Magna Charta -- dazu könnte auch gehören: "Und Unrecht muss zurück gewiesen werden!" Und sei es gegen den Nikolaus oder den Weihnachtsmann selber. -- Well done, little Tom!